Im AGI-Info 05/22 lautete die Überschrift „Der Ukrainekrieg eskaliert“. Jetzt, vier Monate nach Beginn des Einmarsches russischer Truppen, trifft diese Einschätzung weiterhin zu. Die Kontrahenten schießen inzwischen nach dem gescheiterten Angriff auf Kiew mit sog. schweren Waffen über größere Distanzen aufeinander. Das ukrainische Militär verfügt zunehmend über modernere Waffen aus NATO-Beständen.Trotzdem ist es der russischen Seite gelungen, im Donbass Geländegewinne zu erzielen und die Landverbindung zur Krim zu sichern. Etwa 20 Prozent des ukrainischen Staatsgebietes sollen bereits besetzt sein.

Medial ist der Krieg im Abflauen. Die Bilder von zerstörten Panzern, Dörfern und Städten sind bis zum Abwinken gezeigt. Jede Kriegspartei benennt vor allem Verluste der anderen Seite. Wie weit diese der Realität entsprechen, sei dahingestellt. Werden in deutschen Medien vorwiegend Informationen der ukrainischen Regierung und des Geheimdienstes verwendet und die der russischen Seite mit Skepsis bedacht, sind Medien anderer westlicher Länder inzwischen vorsichtiger. So veröffentlichte der britische Independent eine ihm zugespielte Analyse des dortigen Geheimdienstes, „die zu sehr ernüchternden Ergebnissen kommt: Die russische Seite sei im Donbass bei den Geschützen und Raketenwerfern um den Faktor 20, bei der Artillerie um den Faktor 40 überlegen, der Ukraine gehe die Munition aus, und in der Truppe häuften sich Desertionen. Kiew verliere täglich nicht die 60 bis 100 Mann, die Selenskij kürzlich einräumte, sondern 400 bis 500.“ (Reinhard Lauterbach, jW 10.6.22)

Die Verluste müssen auf beiden Seiten schrecklich sein. Wo die Munition der Haubitzen auf Soldaten trifft, bleibt von diesen nicht mehr viel übrig. Der Irrsinn moderner Kriege ist kaum zu beschreiben. Von den beiden Weltkriegen wissen wir: Im Dreck des Schützengrabens zwischen Ratten und Wanzen verliert sich das propagierte Heldentum („Ruhm den Helden“). Ernüchterung stellt sich ein. Es werden von Soldaten zunehmend Fragen gestellt, wie denn das Ganze enden solle. Häufiger muss die Militärgerichtsbarkeit bemüht werden, um „die Moral“ aufrecht zu erhalten. Freiwillige der Territorialen Verteidigungsbataillone, deren Aufgabe es sein sollte, die jeweilige Ortschaft bzw. Stadt zu verteidigen, werden zunehmend gezwungen, die Lücken an der Front aufzufüllen. So war in der jungen Welt vom 30.Mai zu lesen: „Anfang Mai stürmten Frauen in der Stadt Chust in der Region Transkarpatien das Einberufungsbüro und protestierten gegen die Entsendung ihrer Männer von der Territorialverteidigung an die Front im Donbass. Der Leiter des Büros ging nicht darauf ein, woraufhin die Frauen begannen, Fenster einzuschlagen und in das Gebäude einzudringen.“ Derartige Ereignisse deuten darauf hin, dass zwischen dem Kriegsziel der ukrainischen Regierung, die russischen Invasionstruppen zu besiegen und den Interessen einzelner Bevölkerungsgruppen zunehmend Risse erkennbar werden. Präsident Selenskji wird aber nicht müde, täglich die Parole vom vollständigen Sieg der ukrainischen Truppen auszugeben.

Wie ist der Stand der Diskussion hierzulande nach vier Monaten Krieg in der Ukraine?

War das, was man gemeinhin als Friedensbewegung bezeichnet, schon lange vor dem Angriff der russischen Streitkräfte auf die Ukraine, kaum noch in nennenswerter Größe auf der Straße sichtbar, ist sie jetzt fast völlig von der Bildfläche verschwunden. Auch muss, wer heute in der Öffentlichkeit einen differenzierten Standpunkt einnimmt, mit Anfeindungen rechnen. Selbst eine vorsichtige Infragestellung gängiger Narrative gilt fast als Feindbegünstigung. „Im Kontrast zu aller sonst verwirrenden Komplexität sowie zu allen sich überlappenden und einander widersprechenden Konfliktfronten freuen sich viele darüber, dass wenigstens bei einem Thema (Ukraine) eine ganz große Einigkeit existiert.“ ( Meinhard Creydt*) Diejenigen, die sich moralisch in den Konflikt einreihen, wissen, wo sie das Gute und das Böse zu verorten haben. In der Regel interessierten sie sich bis zum 24. Februar nicht im geringsten für den Konflikt im Osten der Ukraine, der seit 2014 als Bürgerkrieg bereits über 10000 Opfer gefordert hat. Nicht zuletzt deshalb wird unwirsch reagiert, wenn auf die Vorgeschichte des Einmarsches der russischen Streitkräfte verwiesen wird.

Wenn der Feind bekannt ist, hat der Tag Struktur (Volker Pispers)

Apropos Feindbild. Mit dem friedlichen Abzug hunderttausender sowjetischer Soldaten aus den westlichen Staaten des Warschauer Paktes in den 90ern, kam auch das Feindbild abhanden, das über Jahrzehnte ein verbindendes Element der NATO-Staaten war. Wozu weiter aufrüsten, wenn kein Feind in Sicht ist. Dass z.B. die Bundeswehr einen Feind bzw. ein Feindbild braucht, darauf machte unlängst die Vorsitzende des Verteidigungsausschusses des Deutschen Bundestags, Agnes-Marie Strack-Zimmermann, mit Nachdruck aufmerksam. Sie forderte eine Neuausrichtung der Bundeswehr mit einer konfrontativen Stellung gegenüber Russland. Dem Redaktionsnetzwerk Deutschland sagte sie: „Jetzt wissen wir, wie ein Feind aussehen könnte in diesem Fall aussieht...Das heißt, Sie brauchen ein Bild eines möglichen Feindes, der unsere Freiheit und Demokratie beseitigen will. Und das sehen wir gerade jetzt.“ Als geeignete Feinde nannte sie China, den Iran und Russland. Russland sei in „den letzten Jahren der Appeasement-Politik nicht mehr als solches (Feindbild) angesehen worden“. Sabine Schiffer,Professorin an der Hochschule für Medien, Kommunikation und Wirtschaft in Frankfurt/M., zur Feindbildproblematik: „Wir sehen jetzt leider wieder, wie schnell es gehen kann, sich Feindbildern zu unterwerfen.“ Die FDP-Politikerin Strack-Zimmermann ist nicht nur Vorsitzende des Verteidigungsausschusses. Als Vizepräsidentin der Deutschen Atlantischen Gesellschaft (DAG) setzt sie sich „für eine Stärkung des europäischen Pfeilers der NATO und eine enge Bindung zu den beiden nordamerikanischen Demokratien ein“ (aus:Selbstverständnis der DAG). Zusätzlich dient sie einer weiteren Lobbyorganisation. Sie ist Präsidiumsmitglied des Förderkreises Deutsches Heer e.V. In diesem Förderkreis tummeln sich die großen deutschen Rüstungsunternehmen wie Rheinmetall, Krauss-Maffei Wegmann, EADS,Diehl etc..

Die Anliegen der illustren Unternehmen werden regelmäßig mit Parteispenden in beachtlicher Höhe unterfüttert. Der Multilobbyistin Strack-Zimmermann kann man zugute halten, dass sie im Unterschied zu manchen grünen bzw. sozialdemokratischen Spitzenpolitiker*innen Klartext redet. Wer für sie Feind ist, wird auch als Feind bezeichnet. Immer häufiger wird sie – passend zu Scholzens Zeitenwende-Gerede - zu Talkshows eingeladen. So auch von Markus Lanz in seiner Sendung zum Thema Ukraine am 2.Juni 2022. Dass deutsche Medien in der Regel die Intensivierung des Abwehrkampfes der ukrainischen Streitkräfte aus der sicheren Distanz befeuern und nur militärische Lösungen akzeptieren wollen, kann als bekannt vorausgesetzt werden. Wie man aber jeglichen journalistischen Anspruch komplett in die Tonne tritt, das blieb dem Format Lanz vorbehalten. Zum Abwatschen nimmt er sich gern eine Frau in die Runde. Und während etwa zwei Millionen Zuschauer*innen dem Schauspiel folgen, wird die Frau, die eine abweichende Position vertritt, erbarmungslos niedergemacht. Bei dieser Sendung war es die Bonner Professorin Ulrike Guerot, die einer militärischen Lösung des Ukrainekonfliktes wenig abgewinnen wollte. Ihre Argumente konnte sie jedoch kaum artikulieren, da ihr gleich von drei Seiten ins Wort gefallen wurde. Am aggressivsten benahm sich Markus Lanz. Ihm zur Seite Frau Strack-Zimmermann und Frederik Pleitgen, Sohn des langjährigen WDR-Intendanten Fritz Pleitgen, Korrespondent bei CNN. Als Ulrike Guerot an die Vorgeschichte des Krieges zu erinnern versuchte und dabei die Jahreszahlen 2008 und 2014 erwähnte, drehte der „Moderator“ durch: „Das hilft uns doch heute nicht weiter.“ Und immer wieder: „Da sterben Menschen!“ Guerot entgegnete, die Frage sei, was vorher passiert sei. Sie wies auf den von der OSZE registrierten massiven Beschuss im Donbass ab Mitte Februar hin und fragte: „Ist Putin das alleinige Übel?“ Für Lanz und seine beiden Mitstreiter konnte die Antwort nur lauten: „Die Antwort ist:Ja!“ Punkt.Basta.Ende.

Thomas Fischer, ehemaliger Präsident des Bundesgerichtshofs, schrieb zur aktuellen Mediensituation in Sachen Ukrainekrieg: „Die Ergebnisse sind: endlose Wiederholungen des immer gleichen Narrativs, angereichert mit bebenden Betroffenheitsfloskeln und stereotypen Bildern ohne Aufklärung, aber mit Moral- gesättigtem Sentiment. Abgesichert durch das angeblich überwältigende „Empathie“-Bedürfnis der angstgeschüttelten Konsumentenmassen und angereichert mit wahllos wirkenden Strategieoffenbarungen zur Weltlage und wahlweise zum Untergang oder Triumph des Abendlandes.“ (Spiegel Kultur, 6.5.22) Im Windschatten des Krieges in der Ukraine darf der türkische Präsident Erdogan mit seiner NATO- Truppe völkerrechtswidrig immer wieder in den Nordirak und nach Nordsyrien einmarschieren. Das wird von „unseren“ Medien weitgehend toleriert bzw. verschwiegen. Wo bleibt hier die Moral? Wo bleiben hier die Sanktionen? Scheinheiliger geht‘s nicht.

Ein Blick auf die Wirtschaftssanktionen der Bundesregierung gegen Russland

Schaut man sich die Zahlen an, geht das Energieembargo nach hinten los. Wurden Habeck, Baerbock und Co. nicht müde, das Embargo gegen Russland neben den Waffenlieferungen als zentrale Säule zur Unterstützung der Ukraine zu propagieren, ist bereits jetzt ein Scheitern dieser Politik absehbar. Nach Prognosen des US-Wirtschaftsministeriums könnte Russland 2022 rund 285 Milliarden US-Dollar an Öl-und Gaseinnahmen verbuchen, über ein Fünftel mehr als im letzten Jahr. Nicht zuletzt deshalb hat sich der Wert des russischen Staatsfonds im Mai um 42,5 Milliarden Euro erhöht – auf ein Rekordhoch von knapp 200 Milliarden Euro. Westliche Vorstellungen, große Teile der Welt würden sich den Wirtschaftssanktionen der NATO-Länder anschließen, erweisen sich als Flop. Zwar wurde der russische Angriff von fast allen Ländern verurteilt, aber Regierungen, v.a. außerhalb des NATO-Bereichs, wissen um ihre eigenen energiepolitischen Interessen. Während große Länder wie China und Indien zunehmend von günstigen Öl- und Gaslieferungen aus Russland profitieren, verschärft sich die Energielage in den boykottierenden Ländern. Verknappung bedeutet nach den Gesetzen des Marktes Preissteigerung. Und so konnten die größten westlichen Öl-und Gaskonzerne – ExxonMobil, Chevron, Shell, BP und Total Energies – ihre Profite im ersten Quartal dieses Jahres im Vergleich zum Vorjahr verdoppeln. Die Zeche bezahlen vor allem die Geringverdiener. Das dürfte auch ein Grund sein, warum immer mehr abhängig Beschäftigte merken, welches Spiel da unter dem Vorwand der Ukraine“solidarität“ mit ihnen gespielt wird. Daraus aber zu schließen, der Ärger an der Zapfsäule würde bereits zu richtigen Erkenntnissen führen, wäre wohl zu viel verlangt.

Aufrüstung wie noch nie seit dem 2. Weltkrieg

Anfang Juni hat der Deutsche Bundestag – wie nicht anders zu erwarten war - mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen, FDP, CDU/CSU und auch der AfD das größte Aufrüstungsprogramm und die dauerhafte Hochrüstung der Bundeswehr per Gesetz beschlossen. Das Grundgesetz wurde mit der erforderlichen Zweidrittelmehrheit geändert, um für die Aufrüstung 100 Milliarden Euro Sonderschulden machen zu können, während für alles andere die sog. Schuldenbremse weiter gilt. Der stellvertretende Vorsitzende der Linkspartei und Bundestagsabgeordnete Ali Al-Dailami erklärte: "Anstatt in soziale Gerechtigkeit, Armutsbekämpfung, faire Löhne, nachhaltige Mobilität und eine echte ökologische Wende zu investieren, werden 100 Milliarden Euro für Killerdrohnen, F35-Atombomber, Kampfpanzer und allerlei anderes Tötungswerkzeug verschleudert.“

Sicher werden jetzt manche, die diesen Artikel lesen und insgesamt der Argumentation beipflichten, einwenden, ein angegriffener Staat muss sich doch verteidigen dürfen. Im Info 05/22 wird dieses Recht befürwortet. Aber wie eine Verteidigung, die sich an den Interessen der Bevölkerung orientiert, aussehen könnte, darüber gehen die Meinungen weit auseinander. Meinhard Creydt gibt zu bedenken: „Gegen die russische Aggressoren-Armee militärisch vorzugehen, die eine überlegene Feuerkraft hat und Städte bei anhaltendem Widerstand von außen in Schutt und Asche legen kann, ist entweder Märtyrerpathos, oder es handelt sich um das rücksichtslose Opfern von allen, die noch irgendwie eine Waffe bedienen können. Und er verweist auf einen weiteren ernstzunehmenden Aspekt:“ Wer für die Ukraine in den Grenzen von 2013 eintritt, verschweigt den Preis. Selbst Selenskij war diesbezüglich in einem seiner seltenen realistischen Momenten skeptisch. Er sprach davon, bereits die Rückeroberung der Krim werde hunderttausende Tote in der ukrainischen Armee kosten und ihm erscheine dieser Preis zu hoch“. (FAZ am 24.5.22) Auch das häufig bemühte Demokratieargument steht auf wackligen Füßen. Es besagt, dass die demokratische Ukraine eben diese („unsere“) Demokratiewerte gegen das autoritäre Russland verteidigt. Allerdings sprechen die Fakten dagegen. Bei beiden Staaten handelt es sich um Oligarchenstaaten, die alles Oppositionelle so gar nicht schätzen. In beiden Staaten wurden und werden weiterhin Abweichler*innen bedroht, verhaftet und einige sogar ermordet. In beiden Staaten existiert eine Allianz zwischen Neoliberalismus und Nationalismus. Was die Demokratie betrifft, stand die Ukraine im internationalen Ranking 2021 auf Platz 86, hinter der Mongolei, Thailand und El Salvador. Also ein recht bescheidener Wert. Würde es Putin aber ernst meinen mit der Bekämpfung des Rechtsradikalismus der Ukraine als Kriegsgrund, „hätte er im eigenen Land damit anfangen können“, so Meinhard Creydt.

Düstere Perspektiven

Inzwischen waren der lange in Kiew unerwünschte deutsche Kanzler Scholz zusammen mit Macron und dem Italiener Draghi in der Ukraine. Was tatsächlich dort besprochen wurde, ob auch eine Verhandlungsoption im Gespräch war, wissen wir nicht. Es gab vor allem die üblichen Betroffenheitsbilder. Zu befürchten ist, dass die bereits im Einsatz befindlichen und die aus NATO-Ländern zugesagten sog. schweren Waffen zur weiteren Verschärfung und Verlängerung der militärischen Auseinandersetzung beitragen. Wenn dieser Kriegsmodus nicht bald verlassen und mit einem Waffenstillstand der Einstieg in Verhandlungen begonnen wird, sind noch schlimmere Kriegsszenarien zu befürchten. Der Historiker Eric Hobsbawm (1917-2012) sagte gegen Ende seines Lebens in einem Interview: „Meine geschichtliche Erfahrung sagt mir, dass wir uns – ich kann das nicht ausschließen – auf eine Tragödie zubewegen.“ Die Entwicklung – nicht zuletzt in der Ukraine - scheint ihm recht zu geben.

*Meinhard Creydt, geb. 1957, Soziologe und Psychologe, lebt in Berlin - www.meinhard-creydt.de
Stand 20.Juni

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"Es kommt nicht darauf an, was man aus uns gemacht hat, sondern darauf, was wir aus dem machen, was man aus uns gemacht hat."

Jean-Paul Sartre