Wenn wir in der Klimadebatte von Erderwärmung sprechen, meinen wir ja immer den Anstieg der globalen Durchschnittstemperatur seit der vorindustriellen Zeit. Der Ausgangswert wird dabei durch den Mittelwert der Jahre 1850-1900 bestimmt, d.h. als industrielles Zeitalter gelten in etwa die letzten 150 Jahre. Davor war das Weltklima 10000 Jahre lang sehr stabil. Dass die fortschreitende Erderwärmung v.a. anthropogene Ursachen hat, also menschengegemacht ist, ist heutzutage nicht nur herrschende Position in den Wissenschaften sondern auch bei fast allen politischen Strömungen angekommen - nur nicht bei der AfD. Was ist also die letzten 150 Jahre schief gelaufen, dass wir heute vor der dramatischen Frage stehen, wie wir unseren Kindern eine Zukunft voller Extremwetter, Dürren, kollabierender Ökosysteme und verheerenden sozialen Folgen ersparen können?
Zweifelsohne waren es 150 Jahre eines unglaublichen Wachstums auf nahezu allen Ebenen: In vielen Ländern des globalen Nordens schossen Bergwerke, Fabriken, Schlote und Wolkenkratzer aus dem Boden. Banken stiegen zu mächtigen Partnern von Fabrikanten auf. Zuerst Eisenbahnen, dann immer mehr Autos und schließlich auch Flugzeuge brachten viele zu ihrer täglichen Arbeit und immer mehr auch in ferne Länder und Kontinente. Textilien, Werkzeuge, Lebensmittel, Haushaltsgeräte, Medikamente und vieles andere wurde in immer größeren Mengen produziert und dadurch auch erschwinglich. Neue Technologien wie Dampfkraft, Elektrizität, Automatisierung und Digitalisierung sorgten für immense Wachstumsschübe. Aus großen Städten wurden Metropolen mit Millionen Menschen und die Weltbevölkerung wuchs von 1,4 Mrd. vor 150 Jahren auf fast 8 Mrd. heute.
Doch dieses enorme Wirtschaftswachstum war nur möglich aufgrund eines ebenso wachsenden Raubbaus an der Natur: Zuerst war es die Kohle, dann das Erdöl und das Erdgas, das in immer größeren Mengen aus dem Boden geholt und zu Strom gewandelt, zu Produkten weiterverarbeitet oder in Verbrennungsmotoren und Heizungen verfeuert wurde. Dazu kam die Ausbeutung vieler weiterer "Bodenschätze" wie Eisenerz, Kupfer, Silber, Zink, Uran und viele andere. So begannen die weltweiten CO2-Emissionen nach dem 2. Weltkrieg stark zu steigen.
"Die Grenzen des Wachstums"
Dass dieses CO2 in der Atmosphäre zu einem Treibhauseffekt beiträgt, der langfristig das Erdklima verändert, wurde damals noch nicht erkannt. Jedoch wurden andere industriell verursachte Umweltschäden wahrgenommen, wie Luftverschmutzung, verunreinigte Abwässer, der sogenannte saure Regen oder das Waldsterben. Dazu wurde zunehmend die Frage diskutiert, wie lange all die Rohstoffe noch reichen werden, um eine derartig wachsende Industrie zu versorgen. 1972 sorgte die wissenschaftliche Studie "Die Grenzen des Wachstums. Bericht des Club of Rome zur Lage der Menschheit" für großes Aufsehen. Darin heißt es, ich zitiere:
"Wenn die gegenwärtige Zunahme der Weltbevölkerung, der Industrialisierung, der Umweltverschmutzung, der Nahrungsmittelproduktion und der Ausbeutung von natürlichen Rohstoffen unverändert anhält, werden die absoluten Wachstumsgrenzen auf der Erde im Laufe der nächsten hundert Jahre erreicht....Unsere gegenwärtige Situation ist so verwickelt und so sehr Ergebnis vielfältiger menschlicher Bestrebungen, daß keine Kombination rein technischer, wirtschaftlicher oder gesetzlicher Maßnahmen eine wesentliche Besserung bewirken kann. Ganz neue Vorgehensweisen sind erforderlich, um die Menschheit auf Ziele auszurichten, die anstelle weiteren Wachstums auf Gleichgewichtszustände führen. Sie erfordern ein außergewöhnliches Maß von Verständnis, Vorstellungskraft und politischem und moralischem Mut. Wir glauben aber, daß diese Anstrengungen geleistet werden können, und hoffen, daß diese Veröffentlichung dazu beiträgt, die hierfür notwendigen Kräfte zu mobilisieren."
Obwohl der Bericht breit diskutiert, in 30 Sprachen übersetzt, alle folgenden 10 Jahre an neues Datenmaterial angepasst und bis heute 30 Millionen mal als Buch verkauft wurde, konnte er nicht die notwendigen Kräfte mobilisieren, um die reichen Staaten und großen Konzerne der Welt von ihrem Wachstumskurs abzubringen. Die Folge: Es mussten auch weiterhin immer mehr Rohstoffe her, fossile und andere. In den letzten 50 Jahren wuchs deshalb die globale jährliche Fördermenge von Erdöl weiter um ca. 90%, von Kohle um 150% und von Erdgas um 250%. Gleichzeitig stiegen die CO2-Emissionen um 150%. Der Anteil der extrem langlebigen CO2-Partikel in der Atmosphäre erhöhte sich bis heute um 48% - die Hauptursache dafür, dass es heute auf der Erde bereits 1,1° wärmer ist als vor 150 Jahren.
Planetare Grenzen
Doch der Treibhauseffekt ist nicht das einzige globale ökologische Problem, das 150 Jahre Industriekapitalismus hervorgerufen haben. Auch beim Artensterben, der Rodung von Wäldern und der exzessiven Düngung mit Stickstoff und Phosphor sehen Wissenschaftler*innen die Belastungsgrenzen der Erde überschritten. Auf mehreren Ebenen befindet sich das Ökosystem der Erde also in einem bedrohlichen Zustand und bei einem weiter-so-wie-bisher wären wohl bald sogenannte Kipp-Elemente erreicht mit unberechenbaren und unumkehrbaren Folgen für das Leben auf unserem Planeten. Ein weiter-so darf es also auf keinen Fall geben. Aber welche Maßnahmen sind nötig? Was ist die Lösung? Eine Frage, die eigentlich keine falsche Antwort verzeiht, da kaum Zeit bleibt um es bei einem Scheitern einfach nochmal und anders zu versuchen.
Green Economy
Die gängigste Antwort auf diese Frage lautet derzeit "Green Economy". Mit marktbasierten Steuerungsmitteln wie CO2-Steuer und Emissionszertifikaten soll die so wichtige Dekarbonisierung der Wirtschaft gelingen. Sie sollen Kernelement einer Energie- und Mobilitätswende sein, die das Klima rettet und den dreckigen, fossilen Kapitalismus der letzten 150 Jahre in einen sauberen, grünen und nachhaltigen für die Zukunft verwandelt. Die Ausweitung von Recyclingprozessen und eine schnelle Digitalisierung z.B. für neue Mobilitätskonzepte sollen dies unterstützen. Die Wirtschaft soll jedoch weiter wachsen und profitorientierte Unternehmen für Energiegewinnung, -lieferung und -transformation zuständig sein. Das entscheidende Versprechen dieser Green Economy lautet: Erstmalig werde der Verbrauch natürlicher Ressourcen vom Wirtschaftswachstum entkoppelt und dadurch die Erderwärmung gestoppt.
Aber dass dieses Versprechen auch zu halten ist muss bezweifelt werden:
- Seit Jahrzehnten finden sogenannte Klimagipfel statt, doch die Ergebnisse von Kyoto, Marrakesch oder Kopenhagen waren allesamt kläglich: Zum Einen weil sich Regierungen nicht zu weitreichenden Verpflichtungen durchringen konnten, die das nationale Wachstum beeinträchtigen. Zum Anderen weil die Umsetzung der Beschlüsse wie etwa das Abkommen von Paris 2015 einfach nicht gelingen mag. Märkte mit unzähligen Unternehmen, viele davon sehr mächtig und ihre Gewinne mit fossilen Energien machend, lassen sich nicht einfach so in gewisse Richtungen steuern. Profitorientierte Unternehmen verfolgen ihre ganz eigenen Strategien und die laufen ihren oft schönfärberischen Bekundungen nicht selten völlig zuwider: So sprechen z.B. deutsche Autokonzerne viel über ihre grüne Unternehmensphilosphie, betrügen aber mit gefälschten Abgaswerten oder bauen neue Fabriken für Verbrennerautos nicht mehr in Deutschland sondern weit weg in China.
- Auch der 1997 in der EU begonnene Handel mit Emissionsrechten hat sich bisher als weitgehend stumpfe Waffe erwiesen. Der beabsichtigte Kostendruck wurde durch Ausnahme- und Ausgleichsregelungen wieder ausgehebelt. 2020 wurden immer noch 70% der Zertifikate kostenlos verteilt um die Abwanderung der Unternehmen ins Ausland zu verhindern.
- Realistisch betrachtet wird auch eine stark ausgeweitete Produktion von Windrädern, Photovoltaik-Feldern, Stromnetzen und digitalen Mobilitätsnetzen riesige Mengen an Rohstoffen und Energie benötigen. Der damit einhergehende CO2-Ausstoß müsste durch umfangreiche Energieeinsparungen an anderer Stelle ausgeglichen werden. Welche Unternehmen oder Bereiche der Gesellschaft werden sich dazu bereit erklären?
- Ausserdem wird es auch weiterhin zu den marktüblichen Rebound-Effekten kommen: D.h. Effizienzsteigerungen z.B. bei Automotoren oder Flugzeugtriebwerken werden durch größere Fahrzeuge oder eine Zunahme an Flügen wieder zunichte gemacht.
Das Europäische Umweltbüro hat 2020 eine Zwischenbilanz der bisherigen globalen Bemühungen nach Entkopplung gezogen und dazu alle verfügbaren Studien über die Zusammenhänge von Wachstum und Energie- bzw. Ressourcenverbrauch ausgewertet. Es stellt fest - ich zitiere:
Es existieren keine empirischen Belege für eine absolute, globale, anhaltende, ausreichend schnelle und ausreichend umfassende Entkopplung von Umweltbelastungen (sowohl bezüglich der Ressourcen als auch der Folgen).
Es ist also damit zu rechnen, dass es einer Green Economy nicht gelingen wird, ihren Energieumsatz und Ressourcenverbrauch vom eingeschlagenenen Wachstumskurs zu entkoppeln. Die für den Stopp des Klimawandels notwendige Dekarbonisierung kann folglich nicht in der geforderten Eile mit den von EU, Weltbank, IWF und anderen momentan vorgeschlagenen marktwirtschaftlichen Mitteln umgesetzt werden. Diese ernüchternde Wahrheit erreicht allmählich auch die Spitzen der Weltpolitik. Vor einer Woche erst stellte UN-Generalsekretär Guterres einen neuen Klimabericht vor, der zeige - ich zitiere Guterres -
"dass sich die Welt auf einem katastrophalen Weg in Richtung einer Erwärmung von 2,7 Grad Celsius befindet".
Um das 1,5° Ziel zu erreichen, sind also viel weitreichendere Maßnahmen notwendig, als die Regierungen weltweit bisher bereit waren, zu ergreifen. In Deutschland wird aktuell doppelt so viel CO2 emittiert, wie der 1,5°-Pfad erlaubt. Um das Wirtschaftswachstum nicht zu gefährden, wurde bislang auf, wie es in einer Stellungnahme des Umweltbundesministeriums heisst, auf "rigide Maßnahmen" verzichtet - eine verhängnisvolle Politik. Genau anders rum müssen die Prioritäten gesetzt werden: Der katastrophale Weg in Richtung einer Erderwärmung von 2,7° oder mehr MUSS verlassen werden, auch wenn dabei die Heilige Kuh "Wirtschaftswachstum" geopfert werden muss.