Ludwig Weißauer 1944 beim Oberkommando Heeresgruppe Nord
Ludwig Weißauer 1944 beim Oberkommando Heeresgruppe Nord

Wie aus dem Sohn eines Oberdorfener Lehrers ein bedeutender Nazi und später ein hochgeachtetes Mitglied des bayerischen Senats wurde.

Die Geschichte beginnt mit einem Fotoalbum eines Dorfeners, der im II.Weltkrieg als Militärfunker vor allem im Osten unterwegs war. Das Album mit zum Teil verstörenden Bildern wurde der Geschichtswerkstatt Dorfen aus Baden-Württemberg zugespielt. Den Dorfener hatte es nach dem Krieg in die Stuttgarter Gegend verschlagen. Bei unseren Nachforschungen stießen wir auf Verwandte in Dorfen und Umgebung, die uns einiges erzählen konnten. Z.B., dass es da einen in Dorfen gebürtigen Stadtpfarrer in München gab, der wegen unwillkommener Äußerungen verhaftet worden war und durch die Intervention eines Neffen schnell wieder frei kam. Das machte uns hellhörig. Und so stießen wir auf einen Dr. Ludwig Weißauer, den besagten Neffen. Der Onkel erhoffte sich von ihm, dass er auch die geistliche Laufbahn einschlagen würde. Der jedoch studierte Jura und Volkswirtschaft und beendete sein Studium 1927 mit dem zweiten juristischen Staatsexamen. Seine erste Anstellung fand er für zwei Jahre beim Internationalen Arbeitsamt in Genf, damals eine Unterorganisation des Völkerbundes.

Von Genf zurückgekehrt, trat der aufstrebende Jurist der NSDAP bei, ging vorerst nach England, betrieb dort wirtschaftswissenschaftliche Studien und ließ sich anschließend in München als Rechtsanwalt nieder. Aber schon bald bekam er von der Partei das Angebot, die Verlagsleitung des Berliner SA-Kampfblattes „Der Angriff“ zu übernehmen.Der SA-Chef von Berlin war der spätere Reichspropagandaminister Goebbels. Es kam zu Auseinandersetzungen in der SA, die dazu führten, dass Weißauer am 1.April 1931 aus der NSDAP ausgeschlossen wurde. Daraus zu schließen, er hätte sich vom Nationalsozialismus abgewendet, wäre völlig daneben. Er blieb der nazifaschistischen Weltanschauung verbunden und machte im Dritten Reich Karriere. Er betrieb eine Rechtsanwaltskanzlei in Berlin und soll auch Rechtsberater Hitlers gewesen sein. Nach der Machtübergabe an die Nazis bis zum Beginn des 2.Weltkriegs soll sich Weißauer in vielen Ländern fast aller Kontinente aufgehalten haben. Über diese Zeit gibt es, was den Rechtsanwalt betrifft, kaum Dokumente, die auf seine Einsätze hinweisen.

Recht gut erforscht sind allerdings die Jahre von 1940 bis 1945.Günther W. Gellermann schreibt in der Einleitung seines 1995 erschienenen Buches „Geheime Wege zum Frieden mit England…“:„Die Person des deutschen Agenten, Dr. Ludwig Weißauer, der, so lassen seine eigenen, wenig präzisen Angaben vermuten bereits vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges wirtschaftliche und diplomatische Aufträge auf der Geheimdienstebene wahrgenommen hat, lässt viele Fragen offen.“ 1940 erhielt er eine zivile Beschäftigung als Beamter im Reichsluftfahrtministerium, zugeordnet dem Luftgaukommando Hamburg. Diese Beschäftigung benötigte er zur Tarnung. Er war nämlich Mitarbeiter des SD in der Auslandsabteilung des Reichssicherheitshauptamtes (RSHA), der Terrorzentrale des Dritten Reiches. Im Keller der Zentrale wurde gefoltert und gemordet. Im Juli 1940 reiste Weißauer nach Stockholm und Helsinki, um über hochrangige Kontaktpersonen herauszufinden, wie sich Finnland und Schweden bei einem deutschen Angriff auf die UdSSR verhalten würden. 1942 erhielt er für seine Verdienste vom Präsidenten Finnlands das „Komturkreuz des Ordens der Weißen Rose von Finnland“. Mitte 1940 wurde er mit einem weiteren Auftrag betraut. Eine Einigung mit England sollte erreicht werden, bevor der Angriff auf die Sowjetunion begann.Diese Mission, die den von Hitler befürchteten Zweifrontenkrieg verhindern sollte, scheiterte jedoch aus verschiedenen Gründen, über die ganze Bücher geschrieben wurden.Im Oktober 1941 wurde Weißauer zum Regierungsrat a. Kr. (auf Kriegsdauer) ernannt und anschließend zum Luftgaukommando Rostow versetzt. Im April 1942 erfolgte eine Abordnung ins Reichsministerium Ost. Er bekam die Aufgabe zugewiesen, die wirtschaftlichen Maßnahmen der Heeresgruppe Nord, mit Sitz in Lettland, mit denen der Heeresgruppe Süd abzustimmen. Leute wie er waren über die Verbrechen von SS, Wehrmacht und Einsatzgruppen voll informiert. Aber offiziell war er nur Angehöriger des Luftfahrtministeriums und, weil er nicht mehr Mitglied der NSDAP war, entging er nach Kriegsende der Entnazifizierung.Seine Geheimdienstkarriere war mit Ende des Krieges auch beendet.

Der Wehrmachtssoldat Paul Hohn, stationiert im belarusischen Berasino, notiert am 31. Januar 1942 in seinem Tagebuch: "Es ist 15 Uhr. Seit einer Stunde werden alle noch hier wohnenden Juden, 962 Personen, Frauen, Greise und Kinder erschossen. […]. Endlich. Ein Kommando von 20 Stapos vollzieht die Aktion. 2 Mann schießen immer in Abwechslung. Die Juden gehen im Gänsemarsch […] durch den Schnee […] zur Grube, in die sie hintereinander hineinsteigen und der Reihe nach im Liegen erschossen werden. […] So wird die Pest ausgerottet. Vom Fenster meiner Arbeitsstelle ist das Ghetto auf 500 m zu sehen und Schreie und Schüsse gut wahrnehmbar. Schade, dass ich nicht dabei [bin]."

Er zog sich nach München zurück, wohnte wieder bei seinem Onkel und seiner Mutter im Pfarrhaus. Beruflich betätigte er sich in den folgenden Jahrzehnten als Rechtsanwalt. Als seine Mutter 1958 starb, verließ Ludwig Weißauer das Pfarrhaus und nahm sich gegenüber eine Dreizimmerwohnung. Über ihm wohnte bereits eine alte Bekannte, die SD-Agentin Melitta Wiedemann, mit der er in seiner Berliner Zeit liiert war und mit der er schon beim „Angriff“ zusammengearbeitet hatte. Auch sie war damals aus der NSDAP ausgeschlossen worden. Weißauer hätte nun ein ruhiges, finanziell gut gestelltes Leben führen können. Aber sein weiteres Leben war bestimmt von verschiedenen Ängsten, die sich nur aus seinen früheren Tätigkeiten in der Nazibewegung erklären lassen. Sein Neffe gleichen Namens, der während seines Studiums in München bei ihm gewohnt hatte, äußerte sich später so:“Er war stets von großer Angst besetzt. Fenster und Türen waren immer verriegelt, am Telefon meldete er sich nie mit Namen.“ Leute mit einer ähnlich belasteten Vergangenheit hielten sich damals oft über längere Zeit bedeckt.

Nicht so Weißauer. Dass seine zweite Karriere im Organisationsbereich der DGB-Gewerkschaften erfolgte, mag viele erstaunen. In der aktuellen Broschüre „75 Jahre DGB München ist zu lesen: „Uns ist aber kein Fall bekannt, in der ein*e Nationalsozialist oder eine Nationalsozialistin eine führende Position bei den Gewerkschaften in München erhalten hat.“ Was wissen wir von der Dorfener Geschichtswerkstatt bis jetzt über den gewerkschaftlichen Werdegang des Rechtsanwalts Weißauer? Er war seit 1950 Syndikus der Genossenschaft Deutscher Bühnenangehöriger in der Gewerkschaft Kunst im DGB Bayern und soll auch Mitglied des DGB- Landesbezirksvorstands gewesen sein.Mit Ludwig Linsert, der 1950 Münchener Kreisvorsitzender und von 1958 – 1969 Landesvorsitzender des DGB war, scheint er nach Aussage mehrerer Gewerkschafter einen freundschaftlichen Umgang gepflegt zu haben. Beide waren Senatskollegen. Linsert von 1956 bis 1969 und Weißauer von 1957 bis 1961. Linsert kam aus dem Widerstand. Er war zu einer zweijährigen Zuchthausstrafe verurteilt und nach seiner Haftentlassung zur Strafdivision 999 eingezogen worden. Fiel Ludwig Linsert bei seinen Kontakten mit Weißauer nichts auf? Das ist alles recht merkwürdig. Der aus Nürnberg stammende Walter Roth, Senatsvizepräsident a.D. und ehem. Leiter der Abteilung Beamte und öffentlicher Dienst im DGB Bayern über seinen Kollegen:„Weißauer war ein sehr angenehmer Kollege im Senat, er besaß hohes Ansehen, war sehr gebildet, wirkte elegant, war sehr zurückhaltend, ein sehr leiser Kollege.“ Warum sollte man auch bei einem so sympathischen Menschen kritische Fragen stellen? 1970 erschien Weißauers letztes Buch mit dem Titel „Die Zukunft der Gewerkschaften“.

Als Rechtsanwalt hatte er noch ein weiteres Standbein, das der Todesanzeige seiner Mitarbeiter zu entnehmen ist. Er war langjähriger Vertragsanwalt des Deutschen Bundeswehrverbandes im Wehrbereich VI. In dieser Todesanzeige, steht auch der Hinweis auf seinen Dienstgrad in der Wehrmacht:Oberfeldintendant. Es heißt da auch, er sei „an einer Spätfolge des Krieges“ gestorben: Das ist insofern merkwürdig, weil sein Neffe, der es besser wissen musste, sein Lebensende ganz anders schilderte:„In den letzten beiden Lebensjahren litt er an einem Leberkrebs, der auf eigenen Wunsch nie stationär behandelt wurde. Er hatte jahrelang täglich eine Flasche Rotwein mit Mineralwasser getrunken. Er magerte sehr stark ab, schließlich konnte er das Bett nicht mehr verlassen, Frau Wiedemann und ein Medizinstudent, der nach mir das Zimmer bewohnte, pflegten ihn fürsorglich.“ Weißauer starb im Februar 1973. Bis zuletzt konnte er seine nicht unbedeutende Nazivergangenheit geheim halten. Hatte er mit dieser Vergangenheit ein Problem? Vermutlich nicht, da er vermutlich nur(?) Schreibtischtäter war. Das Morden besorgten andere.

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Johann Heinrich Pestalozzi