Es herrscht eine bemerkenswerte Ruhe im Land. Zwar ist man mit der aktuellen Regierung äußerst unzufrieden, was sich aus den Umfragen ergibt. Doch treibt das die Bevölkerung (noch) nicht auf die Straßen und Plätze des Landes. Natürlich schon mal gegen die AfD, wie im Frühjahr dieses Jahres, wo sich das gesamte Parteienspektrum unter Verzicht auf Inhalte weitgehend einig war und ist. Für die Demokratie halt. Aber das wars auch schon. Mit dem Alltag hat das wenig zu tun.
Deutschland 2024. Da kracht in Dresden eine der vielen maroden Brücken in sich zusammen. Auf die Bahn ist kein Verlass mehr. Verspätete Züge sind zur Normalität geworden. Manche Züge fallen ganz aus, weil angeblich Personal fehlt. Das Gesundheitswesen hängt am Tropf . In Krankenhäusern werden ganze Abteilungen geschlossen, weil ebenfalls Personal fehlt. Noch vorhandenes Personal ist permanent überfordert und denkt an‘s Kündigen. Kliniken schließen, weil sie pleite sind oder kurz davor. Facharzttermine sind für gesetzlich Versicherte immer schwerer zu bekommen. Die Zwei-Klassen-Medizin hinterlässt ihre Spuren. Geburtshilfe rechnet sich nicht mehr. Immer wieder sind wichtige Medikamente nicht vorrätig. Die Schulmisere ist ein Dauerbrenner. Fehlendes pädagogisches Personal wird durch Quereinsteiger ersetzt. Zu viele Schulabgänger können sich mangels Qualifikation in den Arbeitsmarkt kaum einbringen. Eine der Folgen: Fachkräftemangel. Es ließe sich beliebig fortsetzen.
Die Zeiten waren schon mal besser
Warum hat sich das in den vergangenen Jahrzehnten so zugespitzt?
Ältere unter uns können sich an bessere Zeiten erinnern. Da war auch noch viel die Rede von den Errungenschaften einer sozialen Marktwirtschaft. Die wurde jedoch abgelöst von einer Ideologie, die sich als Neoliberalismus in vielen Staaten durchgesetzt hat. Auch bei uns. Es handelt sich um eine radikalisierte Variante des Kapitalismus, gelegentlich als Turbokapitalismus bezeichnet. Privatisierung war das Zauberwort. Anlagesuchendes Kapital war auf der Suche nach bisher verschlossenen Anlagemöglichkeiten. Gesundheit, Bildung und weitere Bereiche der staatlich organisierten Daseinsvorsorge wurden nach Filetstücken abgegrast. Privat vor Staat war ein eingängiges Motto. Der Staat sollte nur mehr die kostenträchtigen Bereiche behalten. Die Filetstücke für den Markt. Die Parteien spielten mit und sorgten in der Regierung und im Bundestag für die entsprechenden Gesetzesänderungen. Und so näherten sich die Parteien inhaltlich immer mehr an. Kein Wunder, dass sich diese Parteien incl. AfD in ihrer Wirtschaftspolitik nur in Nuancen unterscheiden. Als wirtschaftsliberale Parteien können sie in wechselnden Kombinationen die Regierung stellen. Die AfD sieht zu, bis sie gerufen wird. Würde sie sich vom Höcke-Flügel trennen, ginge es schneller. Alles eine Frage der Zeit und der Umstände.
Zeitenwende
Es gibt aber neuerdings einen Aspekt, der inzwischen eine bedeutende Rolle spielt, der militärische. Deutschland will nicht mehr ein Staat unter vielen anderen in Europa sein. Deutschland übernimmt eine militärische Führungsrolle in der EU. Das ist aber nur zu bewerkstelligen, wenn man viel Geld in die Hand nimmt. Geld, das anderswo fehlt. So erklärte Bundeskanzler Scholz eine Zeitenwende und stattete diese spontan (?) mit 100 Milliarden Euro aus. Wofür? Für‘s Militär, für „unsere Sicherheit“, für „die westlichen Werte“, was immer man sich darunter vorstellen mag. Aber ohne Feind ist das der Bevölkerung nicht vermittelbar. Inzwischen ist klar: Der Feind ist wieder mal der Russe. Die Angriffskriege der USA mit Millionen Toten wurden hierzulande nie als Angriffskriege bezeichnet. Das wäre Antiamerikanismus. Die Russen greifen an und zwar nicht nur die Ukraine. Wenn sie dort nicht aufgehalten werden, marschieren sie weiter bis zum Atlantik. Das sagen uns fachkundige Politiker aus Berlin, die noch dazu aus verschiedenen Parteien kommen und es wissen müssen. Der Begriff der Kriegstüchtigkeit – fast vergessen - ist wieder en vogue. Der Verteidigungsminister mutiert zum Kriegsminister, das klingt zackiger. Er soll lt. Umfragen der beliebteste Politiker des Landes sein. Dass eine Journalistin, die den Pazifismus zu ihrem Hauptfeind erkoren hat, vor wenigen Tagen mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels geehrt wurde, mag makaber sein, passt aber in den Zeitgeist. Anne Applebaum ist auch Historikerin, außerdem Frau des polnischen Außenministers Radoslaw Sikorski. Sie gilt als „einer der Stars der internationalen antirussischen Front“ und ist „bereit, für ihre Werte in den Krieg zu ziehen“. (R. Suchsland, 22.10.24)
Das in den Krieg Ziehen ist natürlich nur im übertragenen Sinne zu verstehen. Tatsächlich in den Schützengräben krepieren sollen andere. Das Deutschland des Jahres 2024 ist auf dem Weg in den Krieg – gegen Russland, wieder einmal. Sollte Herr Merz nach der Bundestagswahl Kanzler der Republik werden, und so ziemlich alles spricht dafür, will er eine noch härtere Gangart in der Konfrontation einschlagen und den Krieg nach Russland tragen. Was das bedeuten würde, müsste eigentlich allen klar sein. Wollen wir wirklich einen 3. Weltkrieg riskieren? Gibt es dagegen einen Aufschrei im Land? Ja, es gibt sie noch, die Friedensbewegung. Aber sie ist kaum hörbar. Jeder Ruf nach Waffenstillstand und friedlicher Beilegung der Konflikte in der Ukraine und im Nahen Osten geht unter im Kriegsgeschrei der Bellizisten. Jeder Hinweis auf Konfliktvermeidung wird unter Generalverdacht gestellt. Die ultrarechten Regierungen in Israel und in der Türkei bekommen von der deutschen Regierung für ihre verbrecherischen Kriegshandlungen zusätzlich Waffen und Munition. Wer gegen weitere Waffenlieferungen in die Konfliktgebiete ist, kann nur ein „Lumpenpazifist“ sein oder ein bezahlter Parteigänger des Herrn Putin, also ein Putinist. So einfach ist das!
Ermutigen statt resignieren
Können wir das Ding noch drehen? Muss man nicht angesichts der geschilderten Verhältnisse resignieren? Noch ein Argument dafür. In den kommenden Jahren werden viele Billionen Euro für die Rüstung ausgegeben. Dieses Geld würde benötigt, um die Folgen des Klimawandels abzumildern. Denken wir nur an die Umweltkatastrophen, Überschwemmungen, Dürren und die betroffenen Menschen, die als Flüchtlinge und Vertriebene durch die Welt irren. Ob wir das Ding noch drehen können, wissen wir nicht. Wir wissen aber eins: Wenn wir resignieren und klein beigeben, haben wir und unsere Nachkommen verloren. Wollen wir das wirklich?
Deshalb zur Ermutigung eine kurze Passage aus dem Nachwort des vor wenigen Tagen erschienenen Buches „Meuterei“ von Peter Mertens:
„Menschen wollen einfache Dinge: ein angemessenes Einkommen, gesundes Essen, ein Dach über dem Kopf, bezahlbare Energie. Sie schließen sich zusammen, organisieren sich und stehen auf. Solange es Unterdrückung und Ungerechtigkeit gibt, wird es Widerstand geben. Wir stehen an einem Scheideweg in einer polarisierten Welt, die jederzeit in alle Richtungen kippen kann. Die Ungeheuer sind nie weit weg. Hoffnung ist nur ein Wort, man muss daran arbeiten. Indem wir den Menschen helfen, aufrecht zu stehen, ihre Stimme zu erheben und sich zusammenzuschließen, sich zu bilden und zu handeln. Indem wir uns für das einsetzen, was in dieser Welt gerecht ist. Und indem wir diese Bewegungen, die nach einem neuen Sozialismus streben, zusammenbringen, in einer Gesellschaft ohne Plünderung, Hass und Unterdrückung, die die Quellen ihres Reichtums respektiert: die Arbeit und die Natur.“