Zwei Ereignisse prägten in den letzten Jahren die politische Entwicklung in besonderem Maße. Am 24. Februar 2022 überschritten russische Kampfverbände die Grenze zur benachbarten Ukraine. Das zweite Ereignis betrifft wieder einmal den Nahen Osten. Am 7. Oktober 2023 überwanden bewaffnete palästinensische Formationen der Hamas und anderer Organisationen den Sicherheitszaun, der Gaza von Israel trennt und ermordeten Teilnehmer eines Musikfestivals und Bewohner grenznaher Kibbuzims. Hunderte Zivilisten fielen dem bestialischen Massaker zum Opfer. 240 Geiseln wurden nach Gaza verschleppt.

Viele davon befinden sich immer noch in den Händen der bewaffneten Gruppen. Wie viele von ihnen am Leben sind, ist unklar. Ein Ende des Geiseldramas ist nicht abzusehen, da sich die israelische Regierung nach dem Überfall die Vernichtung der Hamas zum Ziel gesetzt hat. Niemand wird ernsthaft bezweifeln, dass der Staat Israel das Recht hat, sich gegen derartige Angriffe zu verteidigen. Aber dann wird‘s auch schon schwierig.

Denn beide Ereignisse weisen eine Gemeinsamkeit auf. Sie sind nicht plötzlich vom Himmel gefallen. Oder anders ausgedrückt: Sie haben beide eine Vorgeschichte, die es zu berücksichtigen gilt. Wer sich nur auf das singuläre Ereignis (24. Februar 2022 für die Ukraine und 7. Oktober 2023 für Gaza/Israel) bezieht, verweigert sich einer gründlichen Analyse der Gesamtkonflikte. Diese Analyse kann in einem kurzen Artikel nicht geleistet werden. Hierzulande hat man sich in beiden Fällen schnell und eindeutig positioniert. Auf den ersten Blick scheint das auch nachvollziehbar. Täter und Opfer sind klar zuzuordnen. Was den Ukraine-Russland-Konflikt betrifft, wurde in den letzten Ausgaben des INFO auf verschiedene Aspekte eingegangen. Deshalb sollen jetzt einige Aspekte des Israel/Palästina Konflikts vor dem Hintergrund der aktuellen Ereignisse thematisiert werden.

Eine Barbarei wird barbarisch beantwortet

Der israelische Historiker Mosche Zimmermann hat die Entwicklung seit dem 7. Oktober 2023 treffend auf den Punkt gebracht: „Es ist eine Barbarei geschehen, und jetzt gibt es eine Reaktion, die barbarisch ist.“ Die israelische Regierung hat nicht nur die Auslöschung der Hamas angeordnet, ein Unterfangen, das von vielen Kennern des Konflikts als unmöglich eingeschätzt wird. Es soll einen Plan der Regierung Netanjahu geben mit der Absicht, die gesamte Bevölkerung Gazas nach Ägypten zu vertreiben.

Dieser Plan kann als gescheitert betrachtet werden, da Ägypten die Grenzen nach Gaza geschlossen hat. Somit sitzt die Bevölkerung Gazas in einer Falle und ist den gnadenlosen Angriffen und Bombardierungen der israelischen Armee weitgehend schutzlos ausgeliefert. Die gesamte Infrastruktur liegt in Schutt und Asche. Nach Angaben der palästinensischen Behörden sind etwa 40000 Bewohner nachweisbar tot. In der Mehrzahl Frauen und Kinder. Dazu kommen noch viele, die unter den Trümmern liegen.

Auch Waffen aus Deutschland, die weiterhin mit entsprechender Munition geliefert werden, sind an diesem Desaster beteiligt. Ein Beispiel für die Parole: Deutsche Waffen, deutsches Geld, morden mit in aller Welt.

Was heißt „besondere Verantwortung“?

Der deutsche Staat sieht sich als Nachfolgestaat des Dritten Reiches nach dem Völkermord an den Jüdinnen und Juden in weiten Teilen Europas in besonderer Verantwortung für jene, die der Shoah entkommen sind und auch für deren Nachkommen. Das bestimmt nicht zuletzt das besondere Verhältnis zum Staat Israel und zu den in Deutschland lebenden Menschen mit jüdischen Wurzeln. Die ehemalige Bundeskanzlerin Angela Merkel bezeichnete dieses Verhältnis in einer Rede im israelischen Parlament, dem Knesset, als „deutsche Staatsräson“. Gelegentlich führt das auch zur Bevormundung.

Michael Barenboim ist Professor für Violine und Ensemblespiel. Er lebt seit seinem 7. Lebensjahr in Deutschland. In einem Gastbeitrag der Süddeutschen Zeitung nahm er Bezug auf eine im Bundestag von den Fraktionen der SPD, CDU/CSU, Bündnis 90/Die Grünen und FDP zur Verabschiedung eingebrachten Resolution mit dem Titel „Nie wieder ist jetzt: Jüdisches Leben in Deutschland schützen, bewahren und stärken“. Barenboim verwahrt sich gegen eine Vereinnahmung der Jüdinnen und Juden in Deutschland, denen „die Pluralität ihrer Positionen und Erfahrungen abgesprochen“ werde.

Insgesamt lasse der Verweis auf Israel, „dessen Politik bekanntermaßen auch von vielen Jüdinnen und Juden kritisiert wird, vermuten, dass es hier eigentlich nicht um die Bekämpfung von Antisemitismus geht, sondern um die Unterdrückung propalästinensischer Stimmen“. Es würden, so Barenboim, „nicht alle Jüdinnen und Juden hier geschätzt, sondern nur diejenigen, die die Politik Israels unterstützen“.

Er begründet diese Einschätzung mit Vorfällen der jüngsten Zeit. „Schon seit Monaten...verlieren viele Menschen hierzulande, darunter viele Jüdinnen und Juden, ihr Arbeit, ihre Aufträge, ihre Auftritte, sogar ihre Einreisegenehmigungen. Kongresse werden gewaltsam aufgelöst, Studierendenproteste unterdrückt, Demonstrationen verboten.“

Ist eine Lösung des Konfliktes vorstellbar?

Es gibt keinerlei Hinweise auf das Vorhandensein relevanter Kräfte in Israel wie auf palästinensischer Seite, die eine Kehrtwende in der derzeit völlig verfahrenen Situation erkennen ließen. Die Verhandlungen über einen Waffenstillstand stehen immer wieder vor dem Scheitern, wobei beide Seiten Bedingungen stellen, die von der jeweils anderen Seite als nicht annehmbar bezeichnet werden.

Mit der mutmaßlich vom israelischen Geheimdienst organisierten Ermordung des palästinensichen Verhandlungsführers Ismail Haniyya in Teheran - kurz vor einer möglichen Einigung - wollte die israelische Seite zeigen, dass für sie die Bekämpfung der Hamas vorrangig ist. Die Ermordung des hochrangigen Hamasführers musste von der iranischen Regierung als größtmögliche Provokation empfunden werden. Wie und wann wird die iranische Seite zurückschlagen? Wann explodiert das Pulverfass Nahost?

Es geht aber nicht nur um den Israel/Palästina Konflikt. Es geht auch um die Vorherrschaft im Nahen Osten. Israel ist der wichtigste Brückenkopf der USA. Deshalb wird das Land seit Jahrzehnten aufgerüstet. Auch wenn von westlichen Regierungen verbal mäßigend auf Netanjahus Regierungsriege eingewirkt wird, bekommt sie weiterhin alle Waffen, die sie sich wünscht.

Es gibt in Israel absehbar keine Kräfte mit politischem Einfluss, die auf die palästinensische Bevölkerung zugehen würden, um ihr eine Perspektive anzubieten. Ganz im Gegenteil. 650 000 jüdische Siedler im Westjordanland haben Fakten geschaffen, die eine Zwei-Staaten-Lösung ausschließen. „Die nationalreligiösen faschistischen Kräfte sind inzwischen so stark geworden, dass sie nicht mehr nur Anhängsel, sondern zu einem dominanten Faktor in der israelischen Politik avanciert sind.“ (Moshe Zuckermann, 8.11.23) Düsterer könnten die Aussichten nicht sein.

 

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"Die fast unlösbare Aufgabe besteht darin, weder von der Macht der anderen, noch von der eigenen Ohnmacht sich dumm machen zu lassen."

Theodor W. Adorno